Eine Naturandacht. Oder einer von vielen Wegen, für völlig verrückt erklärt zu werden.

In den ersten warmen Tagen kann man es ganz deutlich vernehmen, meist von einem sonnenbeschienen Hang, oder in einer wärmespeichernden Mulde. Eine Art Zischen, ein leichtes Rascheln, wenn man genauer darauf achtet, klingt es ein weinig wie Rieseln… oder mehr wie ein beständiges Rauschen. Man muss schon aufmerksam sein, aber wenn man es bemerkt, dann ist es ganz deutlich. Eine echte Geräschkulisse. Und wenn man versucht, den Ursprung zu ergründen, wird man ein leicht wogendes und flirrendes Schimmern sehen, bei näherem Hinsehen all die glänzenden Körper in Bewegung erkennen, und begreifen, dass man das Trappeln von unzähligen geschäftigen Füsse hört, durch Wärme und Sonne wieder beweglich gemacht und zu tausenden im Begriff, sich nach dem Winter ein neues Leben zu erschaffen. Es gilt, Schäden zu beseitigen, neu auf- und auszubauen und natürlich Nahrung zu beschaffen.

Es ist eine besondere Atmosphäre, ich kann diesem tickelnden Rauschen lauschen und mich ganz darin verlieren, es ist lauter und deutlicher, als wäre ich mittendrin… Der trockene, spröde Geruch, die Geborgenheit in der ersten richtigen, durchdringen Wärme. Was die Ameisen so in Bewegung bringt, macht mich träge, lässt den Moment sich ausweiten. Wie in Meditation fühle ich mich entrückt, aufgehoben, und gänzlich wach, so präsent in diesem hörbaren Fluss der Betriebsamkeit. Und ich meine eine hochdifferenzierte Orchestration mehr zu erspüren als zu erkennen, ein subtil fein getakteter Rhytmus des Lebens, der Schaffenskraft, auf der diese Welt aufbaut. Möglich, dass diese zahllosen einzelnen Körper sich nicht ganz bewusst sind, was sie tun, und warum, und doch bewegen sie sich in dem Wissen, was zu tun ist, und arbeiten unablässig für den Fortgang ihres Lebens, ihrer Art, dieser Welt. So faszinierend ist diese Zielstrebigkeit, dieses, aus meiner Perspektive, so perfekte Funktionieren.

Und genau aus dem Grund kommen Gedanken zu Bestrafung unter Ameisen auf. Was passiert, wenn eine Ameise über mich hinwegkrabbelt und ich sich abschüttele, so dass ganz woanders landet? Hat sie sich damit völlig unverschuldet Repressalien eingehandelt, weil sie in diesem hochsensiblen, perfekten System nicht an ihrer vorgegebenen Position ist? Oder werde ich hier von menschlichen Verzerrungen fehlgeleitet, und sie wird einfach neu eingewiesen, selbstverständlich und fast unbemerkt in den Lauf der Dinge wieder eingegliedert? Und was ist eine Ameise in der Fremde? Wenn ich sie wegtrage, kann sie auf sich allein gestellt überleben? Auf jeden Fall wird vieles kommuniziert, mitgeteilt – man unterhält sich buchstäblich mit Händen und Füssen, tauscht sich aus. Dies ist kein ferngesteuertes Verhalten, es wird ausprobiert, umgedreht, neu manövriert, Hilfe geholt, ein anderer Weg gewählt. Es gibt reibungslos arbeitende, eingespielte Teams, und es gibt Kollegen, die einfach nur an der falschen Seite anfassen und im Weg stehen… Und wie so oft, reicht mein menschlicher Verstand nicht aus, um die Weisheit der Natur ganz zu begreifen, denn der beste Weg, einen dicken, fetten Wurm zu transportieren, führt nicht am Boden durch den Dschungel aus frischem Grün hindurch. Er besteht ganz offensichtlich darin, mitsamt Beute, schiebend und ziehend, zerrend und schubsend, den nächstbesten Grashalm zu erklimmen, um sich auf der anderen Seite wieder hinab zu manövrieren. Ungefähr dieselbe Methode wird beim angrenzenden Wegerich angewandt… Der Weg ist das Ziel. Dieser Weg ist eine bewundernswerte und faszinierende Aneinanderreihung von Kraft, Körpereinsatz, Taktik und Koordination.

Wenn man genau hinsieht, lassen sich in Ameisenhaufen oft Holzstücke oder andere Objekte von unfassbarer Grösse entdecken, gemessen an den Arbeitskräften. Einmal habe ich eine Burg bestaunt, die mit einem Kern und einem weiteren Ring aus Steinchen befestigt war. Was mich an Waldameisen wirklich tief beeindruckt, ist ihr unerschütterlicher Mut, sich und ihre Welt zu verteidigen. Sie bauen sich vor einem Menschen auf, stellen sich auf die Hinterbeine und blicken einem geradewegs in die Augen. Die Botschaft ist mehr als klar: Bis hier und nicht weiter. Nie bemerkt? Dann ist es Zeit für etwas mehr Respekt. Wie solch beherzter Mut ihn verdient.