Es bietet sich so an, eine Geschichte zu erzählen, die ich gerade wieder erzählt bekommen habe, aber sicher noch nicht so oft, dass sie langweilig oder abgenützt wäre. Ausserdem ist es eine der zeitlosen Geschichten, oder sollte es zumindest sein. Ich verbürge mich dafür, dass es kein Märchen ist. Es ist eine Geschichte meiner Mutter, aus ihrer Jugend, also kann ich einfach nur nacherzählen….

Irgendwann nach dem Krieg lebte die Familie in gemieteten Zimmern, auf viel kleinerem Raum als gewohnt, im Obergeschoss eines Hauses mit grossem Garten. Zur Familie gehörte auch ein eindrucksvoller roter Kater. Ein Kater von besonderem Charakter und, sogar nach Katzenverhältnissen, grosser Persönlichkeit. Er hat bis heute, wie man sieht und hört, seinen besonderen Platz in der Familiengeschichte. Für diesen Kater hatten die Kinder, gemeinsam mit ihrem Vater, eine Leiter organisiert und die Erlaubnis erwirkt, sie ans Fenster zu stellen, damit der Kater auf direktem Wege zum Garten auf- und absteigen könne, was auch bestens funktionierte. So nahm das Leben seinen geregelten Lauf.

An Weihnachten, pünktlich zum Festessen, als die Familie am Tisch Platz genommen hatte, tauchte der Kater wie üblich am Fenster auf, und man beeilte sich, ihn einzulassen. Aber er zögerte, drehte sich wieder um, schien es sich anders zu überlegen – und kam dann doch aufs Fensterbrett. Allerdings erschien oben auf der Leiter nun noch jemand. Der Kater wartete im Fenster, damit es nicht geschlossen werde, auf seinen Gast, der auch ohne weitere Umschweife den selben Weg hereinkam. Bei Licht besehen handelte es sich um eine zweifellos recht junge und gut gepflegte Katze. Was blieb anderes zu tun, als auch die Besucherin, die ja der Einladung des ‘Hausherren’ gefolgt war, mit Truthahn und anderen Leckerbissen zu versorgen? Mit vollem Bauch und nach ausgiebiger Katzenwäsche suchte sie sich einen warmen Platz, rollte sich ein, schlief zufrieden, tief und fest und blieb also über Nacht.

Die Einladung erstreckte sich über die Feiertage, das heisst, die Katze folgte dem Kater auf seinen Streifzügen nach draussen, kam aber auch mit ihm zusammen wieder zu ihrer Gastfamilie heim. Sie machte es sich gemütlich und fühlte sich sichtlich wohl. Währenddessen stellte meine Mutter in der ganzen Umgebung Erkundungen an, wem diese Katze gehören konnte, denn wie eine Streunerin wirkte sie nicht. Letztendlich war die Antwort ganz einfach: ihre Menschen waren verreist, hatten für die Katze zwar ein Fensterchen offengelassen, aber ansonsten war die Kleine ohne Verpflegung zurückgelassen worden und ganz auf sich gestellt.

Und so hatte der Kater dieses kleine Mädchen aus der Nachbarschaft, das zu Weihnachten ganz allein war und Hunger hatte, kurzerhand mit nach Hause genommen. Irgendwie hat er ihr erklärt, dass es sich auszahlt, ihm eine Leiter hinauf zu folgen. Er hat sie über Weihnachten eingeladen und dafür gesorgt, dass sie am Festessen teilnahm, es warm und gemütlich hatte. Wer will noch darüber diskutieren, ob wir von Tieren etwas lernen können?